17.01.2010

Amnestieforderung für Karlheinz Schreiber

Am 18. Januar 2010 steht in Augsburg Karlheinz S. vor Gericht. Ein "Waffenschieber" soll er gewesen sein, aber so einer schiebt keine Waffen, sondern ist bloß einer, wie ihn besonders die Rüstungsindustrie braucht und überall findet, einer, der den Postboten macht, mit den absenderlosen Briefumschlägen und überreicht an gemeinnützige Politiker, die nicht dort hin kamen, wohin sie gehören - und nicht enteignet wurden, weil Karlheinz S. in Kanada war und deshalb angeblicher Mangel an Beweisen.
Jetzt erst kommt er vor Gericht. Die Auslieferung habe so lange gedauert. So ist, was keinen Vorrang hat, denn Karlheinz S. hatte signalisiert, dass wenn er auspacke, ganz andere Köpfe rollen. Eigentlich ein guter Grund, um die Anstrengungen zu verstärken, aber für die "ganz anderen Köpfe" das ganze Gegenteil. Und der Rest in Augsburg ist Farce, denn wie schon zuvor: "Steuerhinterziehung", und es kommt ausschließlich Schenkungssteuer in Betracht, weil Karlheinz S. kann ja gar nicht verdient haben, weil es da nichts zu "provisionsvermitteln" gab, weil da Politiker zwar erwiesen empfänglich, aber nach eigener Auskunft so unbestechlich entschieden. Besser, man versteht es nicht. Auch der DGB wird sich kaum empören, denn jeder verkaufte Mist "sichert Arbeitsplätze" und Mitgliedsbeiträge.
Den Saudis die Panzer, den Israelis das U-Boot, denn für landgestützte Atomwaffen ist das Heilige Land noch immer zu klein. So kann sich niemand beschweren. Den Postboten bestrafen - und die Auftraggeber sind frei?

markus rabanus >> Diskussion

FDP/CSU kassierten 1,9 Mio.€ von Hotelier

Die Senkung des Mehrwertsteuersatzes für die Hotelübernachtung von 19 auf 7 Prozentpunkte war keine schwarz-gelbe Schnapsidee, wie es schien, denn Groß-Hotelier August Baron von Finck spendierte der FDP 1,1 Mio.€ und der CSU 800.000 €.
Die ARD zitiert einen FDP-Sprecher: "Es gibt keinen Zusammenhang mit der beschlossenen Mehrwertsteuersenkung."
Jede gegenteilige Antwort hätte erstaunt. Die Konnexität ist bloß zeitlich und purer Zufall: Dem einen fällt dieses zu, dem anderen jenes; ganz christsozial-liberal, und in diesem Fall gar umsatzsteuerfrei.
msr >> Diskussion

15.01.2010

Atommüllschwindel geht weiter: "Endlager Konrad"

Mit aktueller Pressemitteilung empfiehlt das Bundesamt für Strahlenschutz, dass die 126.000 Atommülltonnen aus dem unterirdischen Kartenhaus "Asse 2" rausgeholt werden sollen.

Damit endet ein Streit gegen zwei andere Machbarkeitsbehauptungen, die jeweils auf eine untaugliche "Endlagerung" hinausgelaufen wären, nämlich auf nahezu Unumkehrbarkeiten:
Variante 1 sah die "Vollverfüllung der Schachtanlage" vor, also faktisch das Einbetonieren der Fässer in den Hohlräumen, wobei sich die dazu erforderlichen Mengen trotz mathematischer Leichtigkeit nicht beziffert finden und obwohl die Erfahrungen mit jederlei Radioaktivstoff-Ummantelung zeigen, dass Beton keine Standhaftigkeit bietet.
Variante 2 wollte die Fässer in noch tiefere Schächte umlagern, die hunderte Meter tiefer erst noch gebaut werden sollten, also die bleibend erforderlichen Kontrollen und rückholende Eingriffe noch mehr erschweren, wenn sie denn überhaupt noch finanzierbar wären.

Die einzig richtige Entscheidung ist die Rausholung, aber nur dann, wenn nicht Fehler wiederholt werden, denn die Atommülltonnen sollen vom vormals als sicher bezeichneten Salzbergwerk in das jetzt vermeintlich sichere Erzbergwerk "Schacht Konrad" umgelagert werden. Auch dort wird es keine "sichere Endlagerung" geben. Und irgendwann müssen die Dinger wieder heraus, was möglichst einfach zu sein hätte, also auch dort nicht in Beton eingegossen werden darf.

Und die Kosten der Asse-Sanierung?

Bislang war von ca. 2 Mrd. € die Rede und beklagt wird, dass sie dem Steuerzahler und nicht den Energiekonzernen entstehen, aber das muss nicht sein, denn wenn sich die Energiekonzerne der unmittelbaren Kostentragung entziehen, dann muss eben doch eine Atomstromsteuer her, die den ganzen Wahnsinn zumindest in den laufenden Kosten deckt und den Atomstromprofiteuren zum Preisnachteil wird, damit die Atommüllproduktion zurückgefahren wird und nicht mehr wettbewerbsfähig ist.

Es braucht eine >> Atomstromsteuer.

markus rabanus >> Diskussion

14.01.2010

Forschung als Deckmantel für Atommülldeponie

Allgemein wird berichtet, dass Bundesforschungsministerin Prof. Dr. Annette Schavan im Untersuchungsausschuss des Atommülllagers Asse "Fehler eingeräumt" habe, denn das Lager habe nicht ausschließlich Forschungszwecken gedient.
Weit über 100.000 Tonnen radioaktiver Müll wurden in die Stollen des ehemaligen Salzbergwerks eingebracht. Das war indes nicht einfach nur "Fehler", sondern ein permanenter "Betrug" der Atomwirtschaft und ihrer Lobbyisten in den Parteien zulasten der Steuerzahler, dem in Milliardenhöhe Sanierungskosten entstehen, die wiederum dieser Mauschelwirtschaft zugute kommen, ohne dass ein einziger Verantwortlicher zivilrechtlich oder strafrechtlich in die Pflicht genommen wird.
Das Versagen der Leitmedien setzt sich setzt sich fort, wenn nur von "Fehlern" und nicht von "Betrug" die Rede ist. Das ist so verlogen wie die als "Forschung" deklarierte Walfängerei Japans. Und wir lassen es unseren Vertretern durchgehen.
Es gibt einfach weltweit bislang keine "Entsorgung", sondern fortgesetzte Atommüllproduktion, die durch falsche Weichenstellungen in den Siebzigern auf den Weg kam und vermeidbar gewesen wäre.

ps: Schavan studierte katholischen Theologie, Philosophie und Erziehungswissenschaften, 1980 Promotion zum Dr. phil.; 2009 Berufung zur Honorarprofessorin an der Freien Universität Berlin.
Tatsächlich 2009? Hat sie denn dafür Zeit? oder ist es wieder nur Zubrot für eine Katholikin in der Nachfolge Jesu?

markus rabanus >> Diskussion

13.01.2010

Haitis Hauptstadt von Erdbeben verwüstet

Nach einem schweren Erdbeben ist Haitis Hauptstadt Port-au-Prince (ca. 2 Mio. Einwohner) weitgehend zerstört. Bundesaußenminister Westerwelle sagte dem ohnehin armen Karibikstaat 1,5 Mio. € Soforthilfe zu.
Wer kann, der kann >> Hilfsorganisationen

Rüstungskonzern EADS probiert es mit Staatserpressung

Der Militärtransporter A-400 M koste zusätzliche "5 bis 11 Mrd. €", behauptet der Airbus-Vorstandsvorsitzende Tom Enders und verlangt mit solch unpräziser Zahlenspanne von den Auftraggeber-Staaten praktisch einen Freibrief für die Kostenexplosion. Andernfalls werde er nicht mehr mitmachen *LOL*, droht also mit Projekteinstellung. Prima, wenn es nicht bloß Masche wäre.
Der Mann gehört angeklagt, denn wer Staaten mit zu niedrigen Kostenvoranschlägen in Kostenfallen lockt, ist des Eingehungsbetrugs verdächtig, aber sicherlich waren die EADS-Juristen mal wieder fleißiger als die Juristen der Regierungen.
Und auch wieder blöde: Die ARD-Tagesschau berichtete ohne Nachweis irgendeiner Recherche, dass an dem A400M-Projekt "bis zu 40.000 Arbeitsplätze hängen" würden. Das sind Zahlen aus EADS-Werbebroschüren - und würden sie stimmen, dann wäre es schade um die Menschen, die Kriegsgerät bauen statt Windkraftanlagen.

msr >> Diskussion

11.01.2010

Afghanistan-Konferenz soll Rückzug einleiten

Die Afghanistankonferenz muss ein klares Programm zum RÜCKZUG erarbeiten, denn jede "Befriedungsstrategie" wird scheitern.

Die Analyse muss aufrichtiger sein:
Der Afghanistankrieg begann völkerrechtswidrig, denn die Terroranschläge vom 11.9.2001 taugten als Kriegsgrund so wenig, wie ein Attentat zum 1. Weltkrieg führen durfte.
Und die Terrorabwehr, z.B. die Sicherheit auf Flughäfen, lässt sich nicht durch Gemetzel auf dem Hindukusch leisten.
Was die Sowjetunion mit 200.000 Soldaten nicht schaffte, kann auch den heutigen Alliierten nicht gelingen.
Die Interventionsmächte haben den Menschen dieser Region keine politische Alternative zu bieten und sind unglaubwürdig hinsichtlich ihrer Wertepostulate.
Der politische Abstand ist so groß, dass "Freund und Feind" zu schwer zu unterscheiden sind, um keine Kriegsverbrechen zu begehen.

Konsequenzen:
1. Verhandlungen mit den "Islamisten" und Abzug, auch wenn solche Verhandlungen scheitern, denn "der Westen" wird nicht bereit sein, ein Wirtschaftsentwicklungsprogramm aufzustellen, das zu politischen Entspannung führt.
2. Es braucht Asyl-Regelungen für Afghanis, die bemüht waren, mit den Interventionsmächten zu kooperieren.
3. Pakistan soll auf Atomwaffen verzichten.
4. NATO, Russland und China müssen die Uneinigkeit überwinden und auf ihre Konkurrenzspielchen verzichten.

Markus Rabanus >> Diskussion

08.01.2010

Video-Analyse: Japan verschuldet "Ady Gil"-Versenkung

Das Video auf seashepherd.org dokumentiert die Kollision aus der Perspektive eines Tierschutz-Begleitschiffs. Das Video auf tagesanzeiger.ch wurde vom Walfang-Begleitschiff aufgenommen.

Die Zusammenschau beider Videos macht die Beurteilung nicht leicht, aber mehrfaches Anschauen hilft weiter:

Beiden Videos ist zunächst gemeinsam, dass die Abstände der Boote weit genug scheinen, so dass keine Kollision droht.

Auf dem Video des Tierschutzbegleitschiffs ist erkennbar, was auf dem Video des Walfang-Begeleitschiffs nicht erkennbar ist, dass das japanische Walfang-Begleitschiff für seine Größe überraschend wendig den Kurs nach Steuerbord in Richtung "Ady Gil" ändert, nur mit geringerer Wahrscheinlichkeit wellenbedingt.

Auf dem Walfänger-Video wiederum ist erkennbar, dass die "Ady Gil" im letzten Moment Fahrt aufnimmt und unter den Bug des Walfang-Begleitschiffs gerät. Da nur etwa zwei Meter vom Bug der «Ady Gil» abgerissen wurden, scheint dieses Vorpreschen die unmittelbare Kollisionsursache zu sein, zumindest für ein Entkommen zu spät, aus der Perspektive so tief unter dem Bug des Walfang-Begleitschiffs allerdings nachvollziehbarer als von dessen hoher Brücke. Und erst recht zugunsten des "Ady Gil"-Kapitäns, zumal seine Sicht und Entscheidungshorizonte durch die Wasserwerfer segmentiert werden.

Auch auf offener See gilt für Motorschiffe die Rechtsvorfahrt, sicherlich zwar die Leichtigkeit vor Schwerfälligkeit, vor allem aber die Ausweichpflicht und die Pflicht zum Manöver des vorletzten/letzten Augenblickes. Wer seinen Kurs ändert, verliert das Vorfahrtsrecht. Das Walfang-Begleitschiff änderte den Kurs auf Kollision statt in Ausweichrichtung.

Es scheint, dass der japanische Walfang-Begleiter schuldhaft das Leben der sechsköpfigen "Ady Gil"-Besatzung aufs Spiel gesetzt hat, schadensersatzpflichtig und des versuchten Mordes verdächtig ist.

markus rabanus >> Diskussion

31.12.2009

Straflose Waffenabgabe verlängern

Bis zum 31.12.2009 konnten straflos Waffen bei der Polizei abgegeben werden, denn das Waffengesetz wurde verschärft, insbesondere gelten strengere Waffenverwahrungsvorschriften. Etwa 120.000 Gewehre, Pistolen usw. trudelten bei der Polizei ein und werden zerlegt, vernichtet. Eine prima Bilanz, dass nun so viele Waffen nicht mehr missbraucht werden können. Das stärkt das staatliche Gewaltmonopol.

In einem dämlichen Kommentar bei N-TV behauptet ein Polizei-Gewerkschaftler, dass die Sicherheitslage in Deutschland durch die Waffenabgabeaktion unverändert sei, weil Kriminelle ihre Waffen behalten haben. Der Beamte hat womöglich Sorge, dass jetzt die Polizei aufgelöst werde. Für solchen "Intellekt" zahlen wir Steuern.
Es ist vielmehr zu fordern, dass die straflose Rückgabemöglichkeit dauerhaft bleibt.

msr >> Diskussion

Buchbesprechung: Jonathan Littell - Die Wohlgesinnten

„Die Wohlgesinnten“ vom französisch-amerikanischen Schriftsteller Jonathan Littell breitet auf 1400 Seiten ein infernalisches Panorama des nationalsozialistischen Völkermordes aus. Bisher hat es kein Buch gegeben, das einen Täter zum Protagonisten und perspektivischen Mittelpunkt eines Textes über den Holocaust gemacht hat. So war es jedenfalls beim Erscheinen des Buches 2006 (deutsch 2008) in den Ankündigungen zu lesen. Ob das stimmt oder nicht: Der mit dem Prix Goncourt geehrte Autor hat mit den „Wohlgesinnten“ ein literarisches Werk über den Holocaust geschaffen, das seinesgleichen sucht.

Geschildert wird die Karriere des fiktiven Protagonisten Dr. jur. Maximilian Aue – Jurist, Homosexueller, Mitglied des SD der SS, zuletzt im Rang eines Obersturmbannführers – aus dessen eigener Perspektive, in Form einer Art autobiographischer Erzählung, die in großen Textblöcken im historischen Geschehen aufgeht, aber immer wieder durch direkte Ansprache des Lesers an die Erzählgegenwart zurückgebunden wird. Littell schickt seinen Erzähler mitten hinein in die Schauplätze von Krieg und Völkermord. Als Mitglied der Einsatzgruppe C der Sicherheitspolizei und des SD unter Otto Rasch ist er Teil der Tötungsmaschinerie, der in der Ukraine 1941/42 Zehntausende zum Opfer fielen. Strafversetzt in den Kessel von Stalingrad wohnt Aue dem Untergang der 6. Armee bei. Die nüchternen Schilderungen der Bedingungen von Stalingrad, wo eine zerlumpte und verhungerte Armee größtenteils erfroren und von Ungeziefer aufgefressen worden ist, gehört zu den stärksten Passagen des Buches. Aue entkommt schwer verwundet dem Kessel und bewegt sich nach längerer Rekonvaleszenz auf den Höhepunkt seiner NS-Karriere zu. Im Dienste des „Reichsführers SS“ Heinrich Himmler inspiziert und analysiert er die Welt der Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager und operiert dabei im Spannungsfeld der komplizierten Interessenkämpfe zwischen den Verfechtern der schnellen physischen Vernichtung und denjenigen, die im Angesicht der drohenden militärischen Niederlage die Arbeitskraft der Deportierten auszubeuten gedachten.

Recherchiert man bei perlentaucher.de eine Gesamtschau der Rezensionen, die Anfang 2008 in den überregionalen Blättern erschienen sind, so fällt der weitgehend negative Tenor dieser Besprechungen sofort ins Auge. Kritisiert wurde dabei vor allem der realistische Stil mit seiner Neigung zur pornografischen Schilderung von Gewaltexzessen und fäkalen Körperfunktionen, der Mangel an einer spezifisch literarischen Aufarbeitung sowie die mangelnde Plausibilität des Charakters des Protagonisten Max Aue. Dessen Handlungsmotive und Antriebsmomente blieben trotz der ausufernden Breite des Textes im Grunde im Dunkeln.

Das sind gewichtige Einwände gegen die Qualität des Buches, die ich größtenteils für einschlägig halte. Was nervt sind weniger die sexuellen Obsessionen des Protagonisten selbst – seien sie nun hetero-, homosexuell oder inzestuös – als vielmehr die permanente Suggestion, dass diese Dinge mit der Täterschaft Aues zu tun haben könnten. Komplizierter verhält es sich mit der Plausibilität der Charakterzeichnung. Sicherlich wird enttäuscht, wer darauf hofft, dass hier ein Tätercharakter ausgeleuchtet und in seinem Funktionieren begreifbar gemacht wird. Wo die Motivation nicht reiner Karrierismus ist, bleibt sie widersprüchlich. Aue – selbst ein Intellektueller mit sensibler musisch-literarischer Erziehung – bezweifelt die völkische Rassentheorie und belächelt die fanatischen Antisemiten mit ihren wahnhaften und kruden bakteriologischen Metaphern. Dennoch besetzt Aue seine Funktionsstellen im Vernichtungsapparat nicht nur mit willenlosem Gehorsam, sondern auch mit dem Ehrgeiz, die ihm übertragenen Aufgaben bestmöglich zu erfüllen. Man mag das bezogen auf den Einzelcharakter trivial finden. Im größeren Kontext fügen sich die Widersprüche allerdings in ein Bild, das den Holocaust nicht mehr als monolithischen Komplex auffasst, sondern als selbst extrem widersprüchliches Ineinander der Instanzen, Kompetenzen und Interessen mit – allerdings stets – mörderischen Konsequenzen.

Nun ist die geschichtswissenschaftliche NS-Forschung seit Jahren mit nichts anderem beschäftigt, als eben jenes 12-jährige Gesamtgeschehen in seinen Verästelungen und Zerfaltungen transparenter zu machen. Und „Die Wohlgesinnten“ ist bis zum Rand gesättigt mit diesem historischen Wissen und diesen historiographischen Diskursen. Es dürfte kaum Veröffentlichungen der NS-Forschung geben, die Littell nicht bekannt sind. Der präzise recherchierte Detailreichtum des Buches ist erschlagend. Das bezieht sich nicht nur auf das äußere Geschehen, sondern auch explizit auf Forschungsansätze, Erklärungsmodelle und biographische Skizzen. Größerer Raum wird beispielsweise Otto Ohlendorf, SS-Gruppenführer und Befehlshaber der Einsatzgruppe D, oder auch Adolf Eichmann gewidmet. Überaus präsent ist beispielsweise die Täter-Mentalitätsforschung in der Spur von Christopher Browning: Das Selbstmitleid derjenigen, die tagtäglich Massenerschießungen vornehmen und über Leichenberge gehen. Wie überaus schwer ist doch die Aufgabe, die wir zu erfüllen haben. Präsent ist auch diese von Michael Wildt beschriebene, aufstrebende, karrierebewusste, Sachlichkeit mit Ideologie verbindende, extrem junge Generation, aus der das Reichssicherheitshauptamt sein Führungscorps rekrutiert hat. Die Liste ließe sich endlos weiter fortsetzen, vom Wirken der Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF), über das beinahe undurchdringliche organisatorische Gestrüpp des NS-Staates bis hin zu den ökonomischen Verwertungsinteressen des SS-Wirtschaftsimperiums der späteren Kriegsjahre. Littell bietet mit den „Wohlgesinnten“ eine Art ausladende und penibel ausgearbeitete Geschichtsforschungs-Prosa.

Diese literarische Verwertung funktioniert als Text und ist interessant. Das Problem dabei ist nur, dass „Die Wohlgesinnten“ kaum über das hinausreicht, was die Wissenschaft bereits als Status Quo des Wissens angehäuft hat. Um ein Eigenrecht als Literatur zu behaupten, müsste der Text einen Mehrwert produzieren, wo er lediglich wissenschaftliche Diskurse, Modelle und Perspektiven sowie bekannte Rollenprosa erzählerisch anordnet und gruppiert – so könnte man mit Fug und Recht fordern. Und dennoch führt der Text den irrsinnig-monströsen Plan des Nationalsozialismus, alle Juden im deutschen Zugriffsgebiet zu töten, auf eine Weise vor Augen, die zumindest in herausragenden Passagen in ihrer Suggestivkraft über das Beschreibungsarsenal wissenschaftlicher Texte hinausreicht. Ein Beispiel dafür sind die Posener Reden von Heinrich Himmler, jene berühmt-berüchtigten Vorträge, in denen er die Ermordung der Juden in ungewöhnlicher Offenheit und Direktheit ausspricht und über die Verbrechen als historische Notwendigkeit räsonniert. Hier gelingt es Littell durchaus, die nervöse Atmosphäre zu verdichten, in der im Oktober 1943 diese Reden gehalten worden sind: Die bewusste Herstellung von Komplizen- und Mitwisserschaft sollte den anwesenden Gauleitern und SS-Führern zu verstehen geben, dass alle Brücken zurück abgerissen sind und dass eine Niederlage gleichbedeutend sein musste mit dem Ende jedes Einzelnen der Anwesenden, deren Signatur fortan unter dem Völkermordverbrechen zu finden sein würde.

martin >> Debatte

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